Ausstellung "Hörwelten" im Marburger Kunstverein, 2016
Mirja Wellmanns künstlerisches Interesse gilt der Wahrnehmung von Geräuschen, an einem konkreten Ort und in einem bestimmten Zeitraum, registriert mit dem Sensorium des Hörens. Die Künstlerin überträgt diese Hörwelten in zeichenhafte und informelle Geräusch- und Klangbilder, die zu Partituren der Imagination werden, wie dies John Cage Anfang der 1950er Jahre in die Sphäre der Musik eingeführt hat. Auf der einen Seite entwickelt die Künstlerin eine Ikonographie der Geräusche und Klänge und verdichtet ihr Dasein in der gehörten Welt, die sie umgibt, in entsprechenden Bildkonzepten und Projekten. Auf der anderen Seite geht es um die Erforschung der Möglichkeiten dieser plastischen, zeichnerischen, in Buchstaben, Worten und zeichenhaften Formen gefassten Bilder, um ihr Potenzial, mit den visuellen Eindrücken die Imagination von Geräuschen im Betrachter hervorzurufen. Das Bild verkörpert die Brücke zwischen der sinnlichen Wahrnehmung von Welt und ihrer Konstruktion in einem synästhetischen Vorstellungsvermögen angesichts der Kunstwerke der Künstlerin.
In den Hörnestern verdichtet Mirja Wellmann ihre an anderer Stelle protokollierte Hörerfahrung in einem plastischen Bild. Wesentliche Parameter sind jeweils ein konkreter Ort und eine bestimmte Zeit des Geschehens und dessen hörende Wahrnehmung. Schließlich sind in den Hörnestern die wesentlichen und differenzierbaren Geräuschverursacher als Motive sichtbar, abstrahierend konturierte, zeichenhafte, in Holz ausgesägte Formen, die Fahrzeuge andeuten, Menschen, Tiere ... – das Zeichenrepertoire, aus dem sich das plastische Hörstück zusammensetzt. Wesentlich für das Kunstwerk sind das Chaos, die Überlagerung und Durchdringung der Geräusche und die Verdichtung im Bild. Die Formen durchdringen sich gegenseitig, als Ausdruck von Gleichzeitigkeit und Überlagerung, sodass viel mehr ein Rauschen sinnbildlich wird, in dem die einzelnen Wahrnehmungen aufgehen. Die Linearität der Zeit ist aufgelöst in der runden Form, die keine Richtung mehr aufweist, in der Verdichtung, in der sich alles zeigt und schließlich in einer abstrakten Form konzentriert und aufgehoben ist. So entstehen in den Hörnestern eigenständige plastische Bilder, in denen die Entstehung zwar noch zu ahnen ist, aber die Durchdringung der einzelnen und zugleich vielfach wiederholten Formen dem Erleben in einem abstrahierenden Gesamtbild Gestalt gibt, in einem plastischen Zusammenhang, einem symphonischen Akkord vergleichbar, der in seinem Zentrum zum dichten Rauschen anschwillt und in der Plastik eine eigensinnige Stofflichkeit und physische Gegenwart gewinnt. Die Farben oder auch das in seiner Materialästhetik belassene Holz spielen für die Bildhauerin eine wesentliche Rolle. Als Klangfarben beinhalten sie die Möglichkeiten weiterer Dimensionen synästhetischen Erlebens und mit Emotionen aufgeladene Imagination.
In Noises überträgt Mirja Wellmann ihr wieder mit einem Ort und an einer Zeitspanne verbundenes Hörerleben in Hörmanuskripte in eine Form konzeptueller Malerei1. Was aus größerer Distanz wie ein gleichgültiges, unbestimmtes graues Rauschen erscheint, wird lesbar und differenzierbar, wenn der Betrachter die Nähe sucht, mit der die Künstlerin malend und schreibend die Geräusche beziehungsweise ihre Verursacher aufzeichnet. Mirja Wellmann übersetzt die gehörten Geräusche in Sprache, in Worte und Schrift, nicht in subjektiver Handschrift, sondern in objektivierenden Versalien. Einzelne Geräuschmomente sind deutlich erkennbar und als Parallele zum Hören treten sie mit weißer Schrift aus der grauen Masse der nur schwer entzifferbaren Worte hervor. In dem in einem Innenraum entstandenen Bild Noises (2014) unterscheidet die Künstlerin mit dem komplementären Farbkontrast Innengeräusche in Gelb und Außengeräusche in Blau. Das gibt dem Bild zusätzlich eine mit Nacht und Licht assoziierbare, romantisch erlebbare Stimmung. Von oben nach unten ist die lineare Konstruktion der Zeit im Bild erlebbar. Im Fluss der flüchtigen Eindrücke manifestieren sich besondere Geräusche und damit wesentliche, für das jeweilige Bild charakteristische Momente. Wenn sich bestimmte Geräusche und Worte wiederholen, dann wird die Gleichzeitigkeit im Bild zum künstlerischen Thema, als Netz, als Muster, die für das Klangbild als Ganzes dessen eigene Form und Inhalt zugänglich machen.
Die Holzschnitte mit dem Titel Phonetische Versuchsanordnungen mit Handlungsanweisungen zur Herstellung derselben (2008) bilden eine Werkreihe, die man als Partituren zu einer eigenen Interpretation begreifen kann. Es handelt sich bei allen Blättern um Geräusche, die der Interpret mit seinem Körper als Instrument herstellen kann. Die Buchstaben ergeben ein konkretes Lautbild, ihr Klang ist synonym mit den Geräuschen zu begreifen. Eine kleine Zeichnung, eine Bewegungsskizze gibt jeweils eine Anleitung, mit welchen Körperteilen, wo und wie die Geräusche herstellbar sind.
In der konzeptuellen Kunst hat die Entstehung eines Werkes neben dem authentischen Ausdruck des schöpferischen Moments wesentlich mit dem Prinzip der Übung zu tun. Mirja Wellmann versteht Kunst als übende Praxis der Selbstwahrnehmung. Jede Übung hat mit Konzentration zu tun, bringt Askese2 und Methode als Tugenden künstlerischer Praxis und Reflexion ins Spiel. Zur Übung gehört die Wiederholung. In ihr entstehen eine erhöhte Aufmerksamkeit und die Möglichkeit zu meditativer Versenkung, beides dazu angetan, die Fähigkeit kontemplativer Wahrnehmung und die Entwicklung praktischer Fertigkeiten zu entwickeln. Üben ist die älteste und intensivste Form einer selbstbezüglichen Praxis, als dessen Resultat sich ein Können entwickelt, das sich mit Kompetenz und Virtuosität charakterisieren lässt. Eine Übung entsteht aus einem Experiment und dessen Wiederholung. Anleitung und Protokoll vereinen erforschendes Handeln und kontemplative, reflektierende Beobachtung, Praxis und phänomenologische Theorie. Übungen „elaborieren den Übenden selbst und bringen ihn als Subjekt-das-kann „in Form“3. Mit dem Handlungskonzept zum Handeln (Spielen) und Hören macht die Künstlerin aus dem Betrachter einen aktiven Teilhaber in ihrem Bild.
In diesem Sinne gehören zum Werk von Mirja Wellmann partizipatorische Kunstwerke. Den Anfang bildet die Werkreihe der Hörhelme (2003-2005), Hörkapseln (2004) und schließlich der Hörmodule I und II (2006). Sie sind als Instrumente des Hörens angelegt und geben dem sinnlichen wie körperlichen Erleben eine Form: Sie betonen den Kopf und schließlich den ganzen Körper als Wahrnehmungsorganismus. Sie fokussieren das Hörerlebnis mit ihren Öffnungen. Mit ihrer Transparenz machen sie noch etwas anderes deutlich, was unbedingt zur Performance in der Ausstellung gehört: Hören, sehen und Teilhabe an dem Ausstellungsgeschehen sind als die wesentliche Wahrnehmungsperspektiven in den Kunstwerken zum Thema gemacht.
Die Installation Hörraum (Städtische Galerie Ostfildern 2014) ist ebenfalls als partizipatorisches Kunstwerk angelegt: Auf Hockern liegen zusammen mit einer Schreibunterlage Blätter mit der Handlungsanweisung, für 10 Minuten alle Geräusche zu lokalisieren und um die Figur in der Mitte des Blattes aufzuschreiben, die als Identifizierungsangebot für den teilnehmenden Betrachter zu verstehen ist. Als Ergebnis reihen alle teilnehmenden Personen ihre ‚Hörprotokolle‘ an einem Draht nebeneinander. Alle aufgezeichneten Hörerfahrungen sind zur selben Zeit in demselben Ausstellungsraum entstanden, und die Betrachtung des Experiments offenbart in der vielfachen Wiederholung und damit in einer objektivierten Form zugleich die Differenzen und Besonderheiten, die in der jeweils subjektiven Wahrnehmungen und Interpretationen in dem jeweiligen Hörbild jedes einzelnen Teilnehmers zu erkennen sind. Erst mit der aktiven und subjektiv interpretierenden Teilhabe des Publikums entsteht der Hörraum als Bild, als Installation und Kunstwerk. Partizipation bedeutet auf Seiten der Künstlerin ein Delegieren eines Teils ihrer Autorenschaft für das Kunstwerk an das nicht nur betrachtende, sondern teilnehmende und selbstbewusst handelnde Publikum. Die Teilhabe der Menschen ist konstitutiv für das Kunstwerk. Die Künstlerin gibt in der Form der Hörprotokolle den Spielraum und seine Regeln vor und überlässt es dem Zufall und dem Moment, welche Hörerfahrungen die mitspielenden Personen machen und wie sie ihre Wahrnehmungen interpretieren und in das prozesshafte Geschehen des Kunstwerks einbringen. Die teilnehmenden Menschen sind Akteure und Betrachter in einem, wie die Künstlerin. Diese Kunstwerke haben für alle Beteiligten in ihrem konzeptuellen Rahmen performativen Charakter. Es handelt sich um eine echte Teilhabe, deren Formen und Inhalte nicht vorherbestimmt sind.4
In den Hörtouren lässt die Künstlerin zusammen mit den teilnehmenden Personen für 10 Minuten von bestimmten Orten gehörte Landschafts- oder Stadtbilder entstehen. Die Hörtour Marburg (2016) nimmt ihren Ausgang im Marburger Kunstverein. Dort entsteht ein Hörraum mit den Protokollen von 10 Minuten Hören an diesem Ort. Für die weiteren sechs ausgesuchten, akustisch interessanten Stationen in der Marburger Innenstadt bekommen die Teilnehmer einen Routenplan mit den sechs eingezeichneten und in Fotografien abgebildeten Orten und leere Hörprotokolle in entsprechender Anzahl, die wie immer oben die Handlungsanweisung und die Zeichnung der Identifikationsfigur in ihrem Zentrum haben. Mit der besonderen Aufmerksamkeit des Hörens entfaltet sich der Charakter des Ortes, in den Geräuschen und ihren Aufzeichnungen vermitteln sich Zeit und Raum, die pulsierenden oder eher verhaltenen Rhythmen und Stimmungen der Plätze. Ob die teilnehmenden Personen ihre Wahrnehmungen in Worte fassen, in Buchstaben phonetische Entsprechungen finden oder diese in freien Zeichnungen zum Ausdruck bringen, steht ihnen frei. Es ist ihr Erleben, ihre Bilder verhandeln in ihren Darstellungsmöglichkeiten ihre persönlichen und subjektiven Erfahrungen, zu denen sie das Konzept der Künstlerin Mirja Wellmann führt.
Während sich die bildende Kunst naturgemäß vor allem auf das Sehen verlässt, und die Kunstwerke die Entsprechungen von Erfahrungen in den Bildern, die sich davon machen lassen, vor unseren Augen verhandeln, konzentrieren sich die Arbeiten von Mirja Wellmann auf die sinnbildende Erfahrung des Hörens und die Möglichkeiten, das Gehörte in Bilder umzusetzen. Einerseits macht sie ihr eigenes Erleben zum Gegenstand von Bildern, die sie konzeptuell als Experimente begreift, als Übungen im Hören und im bildhaften Interpretieren des Gehörten. In ihren partizipatorischen Installationen und Konzepten inszeniert Mirja Wellmann ein Hörstück, in dem das Publikum mitspielt. Mit dem Ort, dem Zeitraum und der Handlungsanweisung im Hörprotokoll ist der Spielraum des Hörbildes umschrieben. In der tatsächlichen Performance spielt der Zufall, das Besondere des Moments, den Teilhabenden in die Hände und der Künstlerin ins Konzept. Auch das gehört zum Spiel, zum Experiment, zur Übung, und damit in die Bilder, in denen Mirja Wellmann Hörwelten zur Ausstellung bringt.
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1Roman Opalka malt seine kontinuierlichen Zahlenreihen in einem vergleichbaren Grauspektrum zwischen Schwarz und Weiß. Während er malt, spricht er die Zahlen auf Polnisch, denn in seiner Muttersprache ist schreiben und sprechen genau parallel, und er zeichnet dies auf und macht mit der Wiedergabe aus dem Ausstellungsraum mit den Bildern zugleich einen Klangraum.
2Das griechische Verb askein bedeutet üben. Askese gehört zu den sportlichen Übungen des Athleten genauso wie zu jedweder Einübung von Tugenden und besonderen Fertigkeiten. Üben bestimmt in hohem Maße die Arbeit und die Zeit eines praktizierenden Musikers.
3Vgl. Peter Sloterdijk, Scheintod im Denken. Von Philosophie und Wissenschaft als Übung. Berlin 2010, S. 16f
4Im Gegensatz zu interaktiven Kunstwerken, in denen das Geschehen in diesem bereits angelegt und vorgegeben ist.