sculptor & sound artist

Dr. Annett Reckert, Kunsthalle Göppingen, 2006


 

Katalogtext Mirja Wellmann "Hörstationen", 2006


Stationen des Hörens


Die Liebe zu seinem Spiegelbild trieb Narciss in den Tod. Es bannte seine Aufmerksamkeit so sehr,
dass sich seine Wahrnehmung allem anderen verschloss. Dieser Teil der Ovidschen Geschichte ist
bekannt, weniger geläufig ist jedoch, dass Narziss der tödlichen Faszination des Sehens verfiel just
nachdem er die in Leidenschaft entbrannte Bergnymphe Echo – die mythische Inkarnation des reinen
Tons – verhöhnt und verschmäht hatte. Er hatte sie nicht erhört; So geht es, daran erinnert Wolfgang
Welsch, bei dem uralten Mythos von Narciss und Echo eigentlich um die „Doppelfigur von Sehprivileg
und der Hörverachtung mitsamt ihren tödlichen Folgen. Er verkündet dem Abendland die Tödlichkeit
eines Sehens, das nur noch sehen will und gegen das Hören sich verhält.“


Mirja Wellmanns „Hörstation“ verführt und bannt in einem ersten Schritt zweifellos die sehende
Aufmerksamkeit des Betrachters. Was lockt, ist die grün-gelbe Lichterscheinung, ein unerklärliches
Aus-Sich-Herausleuchten der „Station“. Dabei zeichnen die fluoreszierenden Ränder der giftgrünen
Plexiglasgehäuse ein präzises Bild in den Raum, um so ganz entscheidend zu einer befremdlichen, zu
einer magisch-artifiziellen Atmosphäre beizutragen. In einem zweiten Annährungsschritt fordern die
Objekte – zwei Kabinen mit Helmausstattung und eine Wartebank aus Polyester und Plexiglas – den
Betrachter zu einem unbefangenen Umgang auf. Das Material liegt vertraut in der Hand, wirkt
unverwüstlich, alles scheint wie gemacht für den täglichen Gebrauch. Die Türen der Stehkabinen sind
eine unmissverständliche Handlungsaufforderung und die vorgesehene Nutzung der Stationen erklärt
sich von selbst. Wer außen vor bleibt wie zum Beispiel die Wartenden auf der Bank, der erlebt die
performative Selbstausstellung der Probanten. So stellt sich ein durchaus heiteres Bild ein, wenn die
fortschrittlich designten Helmvitrinen den Besuchern, oder besser ihren Köpfen, mehr oder minder
freiwillig zur Ausstellung ihrer selbst gereichen.


Mirja Wellmanns Hör-Helme sind auch als mobile Versionen, also auch in der Bewegung durch den
Raum, zu testen. Sie schirmen ihren Träger ab, sie filtern, dämpfen, verzerren und im Verlaufe einer
bewussten Wahrnehmungsphase erreichen die eigenen Körpergeräusche, allem voran natürlich das
Atmen, eine gesteigerte Intensität. Dies zieht innere Bilder nach sich und evoziert grundlegend die
Frage nach der Herkunft der Bilder, so sie doch keineswegs nur durch den Augensinn in unser
„Kopfkino“ gelangen. Mirja Wellmanns „Hörstationen“ verschaffen eine erstaunlich starke
raumkörperliche Präsenz von dem, was wir gemeinhin als unfassbar immaterielles Wellen-Phänomen
bezeichnen – von Tönen und Klang, von Geräuschen, Lauten und Worten. Vielleicht lohnt es sich
kritisch über das Wort „Wahr-Nehmen“ und dessen suggestive Kraft nachzudenken. Schließlich führt
das „Wahr“ zur Wahrheit und das „Nehmen“ suggeriert eine Vorstellung von aktivem Erwerb.
Möglicherweise ist aber für das, was wir meinen, der Begriff „Eigen-gebung“ der Treffendere.
Die „Hörstation“ als Doppelkabine zwingt zwei Menschen in eine intime Nähe. Möglicherweise sind es
Menschen, die sich zuvor noch nie begegnet waren. Der Helm – eigentlich ein traditionell männliches
Attribut, das für den gerichteten Blick des Kämpfenden sorgt – zwingt fast unsausweichlich zum
Blickkontakt. Das intensive, sehr selbstbezügliche Hörerlebnis ist gepaart mit einer umso
bewussteren, non-verbalen Kommunikation der beiden Kabinennutzer. Die, die jetzt Partner geworden
sind, sind ganz Auge und Ohr. Sie betreiben unwillkürlich solcherlei Forschungen, für die die
„Hörstation“ einen Schutzraum in Sinne einer Tank- und Versorgungsstelle für Zwischenmenschliches
ist.


Das Hören kämpft immer mit dem zeitlichen Fluss, mit dem Flüchtigen, Vergänglichen, Ereignishaften.
Zum Sehen gehört die Prüfung, Kontrolle und Vergewisserung; das Hören erfordert die akute
Aufmerksamkeit für den Moment, das Gewahren des Einmaligen, den Langmut für die Dauer (gerade
der Stille) genauso wie die Offenheit für das Ereignis. In der jüngeren Kunstgeschichte war es John
Cage, der dies thematisierte. Der Stille ist Mirja Wellmann immer wieder auf der Spur unter anderem
durch ihre Selbstversuche im schalltoten Raum. Diese Forschungen stehen im Zusammenhang mit
ihren „Hörprotokollen“; Über Stunden hinweg notiert Mirja Wellmann schnell und hoch konzentriert
schreibend all das, „was ihr zu Ohren kommt“. Ein ausgewählter Raum wird subjektiv erhört und in
sichtbare Zeichen transferiert. Im Sinne minimalistischer Poesie könnten diese Notate später in einer
Lesung wieder hörbar werden. Als professionelle Hörerin und als Konstrukteurin ihrer Hör-Stationen,
lässt die Künstlerin uns nachdenken über die Hierarchie unserer Sinne, kritisch vor allem über das
Sehen als unseren Leitsinn, über unsere akustische Kultur und über die Notwendigkeit von Zonen der
Unterbrechung, der Pausen, der Reduktion und der Stille.