Eröffnungsrede Ausstellung im Schloss Donzdorf, 2008
Mirja Wellmann – Phonetische Versuchsanordnungen
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Mirja,
ja, an diesem wunderschönen Morgen ...
freue auch ich mich sehr, Sie hier im Schloss Donzdorf zur Eröffnung dieser Ausstellung von Mirja
Wellmann begrüßen zu können, und somit also schon zur zweiten Eröffnung im Rahmen der
diesjährigen, von Anja Luithle kuratierten Ausstellungsreihe hier in diesen Räumen.
„Phonetische Versuchsanordnungen“ hat Mirja Wellmann diese Ausstellung betitelt.
Ein eher ungewöhnlicher Titel für eine Kunstausstellung, denkt man doch bei den Begriffen
„Phonetik“ und „Versuchsanordnung“ zunächst wohl eher an eine wissenschaftlich ausgerichtetes
Experiment, in dem es um Laute oder Lautbildung – also um die Erforschung von Sprache geht,
und damit auch um die Wahrnehmung dessen – also um das Hören, und weniger um das Sehen!
Als bildende Künstlerin – oder um noch es noch genauer zu nehmen: als Bildhauerin – geht es
Mirja Wellmann in ihren Arbeiten aber natürlich ganz entschieden auch um das Sehen, sowie um
die Wahrnehmung von Räumlichkeit – also um das Schaffen und Erfahren von Kunst im
dreidimensionalen Raum.
Aber wahrscheinlich werden auch diese Erläuterungen einige unter Ihnen etwas stutzig machen.
Handelt es sich doch bei den hier präsentierten Werken weniger um Skulpturen, sondern
vornehmlich um zweidimensionale, relativ klassisch an den Wänden präsentierte Arbeiten!
Da sind zum Einen, die feinen, geritzten Zeichnungen in dem transparenten, gelblich-grün
fluoreszierenden Plexiglas, die dem Besucher schon gleich beim Betreten des Gangs
entgegenstrahlen, und die durch ihre Leuchtkraft – insbesondere in dem hinteren, den Gang
abschließenden Raumsegment – eine beinah futuristisch anmutende und zugleich sphärische
Atmosphäre erzeugen.
Zum Anderen zeigt die Künstlerin Arbeiten aus zwei extra für diese Ausstellung entwickelten und
per Holzdruckverfahren erzeugten Serien.
Durch die gedruckten Buchstabenfolgen und die schematisierten Darstellungen wird der Betrachter
quasi automatisch zum Lesen und somit zum Entschlüsseln eines Zusammenhangs aufgefordert.
Aber bevor ich tiefer darauf eingehe, lassen Sie mich zunächst noch ein wenig zur Klärung der
schon zuvor erwähnten, scheinbaren Wiedersprüche von Wissenschaft und Kunst, Hören und
Sehen oder auch Bild und Skulptur erläutern.
So setzt sich Mirja Wellmann in ihrer bildhauerischen Arbeit nun schon seit einigen Jahren intensiv
mit dem Hören auseinander! Sie empfindet – auch wenn in unserer visuell ausgerichteten Gesellschaft meist das Sehen als das
Erkenntnisorgan Nr. 1 betrachtet wird – beim Hören viel stärker das Gefühl eines wirklichen
„Verortens“, und hält das Hören folglich auch als wesentlich besser geeignet, um den Raum in
dem man sich befindet kennen zu lernen, und ein Bewusstsein für ihn zu entwickeln.
Während man sich beispielsweise beim Sehen bewusst dem zu Betrachtenden zuwenden muss,
um es überhaupt wahrzunehmen, ist man vom Klang umgeben – wir hören allround. Je nach
architektonischer Begebenheit und Ausrichtung verändert sich jedoch der Klang und ermöglicht so
eine Orientierung.
Auch ist es möglich, einfach die Augen zu verschließen, um nichts mehr zu sehen, während man
jedoch selbst in einem schalltoten Raum und bei absoluter Bewegungslosigkeit noch hören kann,
auch wenn es „nur“ das Rauschen des Nervensystems und der Blutbahnen des eigenen Körpers
ist.
So hat Mirja Wellmann in ihrer künstlerischen Auseinandersetzung mit diesen Phänomenen – die
sie auch tatsächlich beinah wie eine „Forschung“ betreibt – im Rahmen von Aktionen und
Performances schon viele Räume „erhört“.
Das heißt, dass sie sich manchmal über mehrere Tage jeweils bis zu 8 Stunden in einem Raum
aufhält, um von verschiedenen Positionen die spezifischen Eigen- und Umweltgeräusche des
Raumes, dessen akustische Eigenschaften und Rhythmen wahrzunehmen und protokollarisch in
einer Art minimalistischen „Textskulptur“ festzuhalten.
Dementsprechend hat sie sich auch den Erfahrungen im schalltoten Raum schon eingehend, in
stundenlangen Experimenten gewidmet und wird selbst von Fachleuten – die eine solche
Situationen meist nicht so lange aushalten – als „professionelle Hörerin“ bezeichnet.
Unterdessen entstanden in ihrer räumlich-skulpturalen Umsetzung akustische Skulpturen, wie z.B.
die Hörhelme – von denen Sie zwei Beispiele eines Multiples in der Vitrine im hinteren Gangteil
sehen können – sowie Hörkabinen und Klanginstallationen.
Als „Stationen des Hörens“ bieten diese Skulpturen dem Besucher die Möglichkeit, in einer
veränderten – durch die Plexiglashüllen hervor-gehobenen, zugleich aber auch ent-hobenen und
gefilterten, räumlichen Situation, seine eigenen Hörerfahrungen zu machen.
Einige der hier präsentierten, geritzten Plexiglaszeichnungen stellen diese Hörskulpturen dar und
vermitteln uns so einen Eindruck von deren Formen und Funktionsweisen.
Wiederum andere der Ritzungen visualisieren in einer eher schematisierten, ästhetisch
rhythmisierten Form die Ausbreitung von Schallwellen – bzw. von Klang- und Hörräumen – die sich
zum Teil wie eine Art Aura um die Darstellungen von Mensch und Tier ausdehnen.
Darin versinnbildlicht die Künstlerin sowohl den durch Lautäußerungen und Hören erweiterten
Wirkungs- und Wahrnehmungskreis der Lebewesen, veranschaulicht aber auch deren dadurch
vorgenommene „Verortung“ innerhalb des sie umgebenden Raumes.
Die teilweise Überschneidungen der Schallwellen verweisen darüber hinaus auf deren
gegenseitige Wahrnehmung, wodurch eine mögliche Kontaktaufnahme oder andere
Wechselwirkungen hervorgerufen werden können.
In ihrer Transparenz und Leuchtkraft – die insbesondere an den gezeichneten Linien und den
Kanten hervortritt, und die weit über das Gebilde hinaus in den Raum ausstrahlen – vermitteln die
fluoreszierenden Scheiben einen Eindruck von scheinbarer Schwerelosigkeit und einer gewissen
„entkörperlichten“ Präsenz.
Dieses eigenartige „Aus-Sich-Herausleuchten“ macht förmlich eine Anschauung der
normalerweise so nicht wahrnehmbaren Ausbreitung elektromagnetischer Lichtwellen sichtbar,
was sich gewissermaßen auch in eine sinnbildliche Analogie zur Ausbreitung der Schallwellen
setzten lässt.
Im Grunde war von vorneherein klar, dass eine Ausstellung der Hörstationen in der räumlichen
Situation hier vor Ort – also draußen im Gang –nicht möglich ist.
Dies hat Mirja Wellmann jedoch als eine willkommene Herausforderung angenommen, sich über
die Plexiglasritzungen hinaus auch weitergehend auf einer eher zweidimensionalen Ebene mit
dem thematischen Umfeld des Hörens, den elementaren Bedingungen von Raum- und
Körperwahrnehmung und Kommunikation zu beschäftigen.
Der dieser Beschäftigung zugrundeliegende Grundgedanke liegt aber nach wie vor in der eher
auerischen Frage nach der eigenen Verortung, also dem „Wo bin ich? Und in welchem Bezug steh
ich zu dem mich umgebenden Raum?“
So entstand zunächst die Serie der von der Künstlerin als „Klangbilder“ bezeichneten Arbeiten mit
dem Titel: „Gehörte Räume – harmonischer Extrakt“.
Als Grundlage dieser Blätter dienten die schon erwähnten Hörprotokolle, aus deren
dokumentarischen Auflistung Mirja Wellmann schon bei deren Entstehung einige ihr besonders
harmonisch erscheinende Zusammen-Klänge der gehörten Alltagsgeräusche auswählte und
notierte.
Entsprechend lösen die Wortzusammenstellungen bei der Künstlerin selbst auch noch immer
bestimmte Erinnerungen an die damaligen Klangerlebnisse aus.
Der Betrachter allerdings ist aufgefordert, sich auf Grundlage dieser Begriffe durch seine eigenen,
individuellen Erinnerungen und Assoziationen an Geräusche und Klangerfahrungen seine eigenen,
„möglichen“ Kompositionen oder Harmonien vorzustellen, bzw. – unter gewissen Umständen –
vielleicht auch auszuführen.
Darüber hinaus können diese Klangbilder aber auch als ein genereller Verweis gewertet werden,
sich hin und wieder aus dem unaufhörlichen Fluss der Tätigkeiten und Aktivitäten heraus zu
nehmen, und seine Aufmerksamkeit auf die immer gegenwärtigen, aber normalerweise eher
ausgeblendeten Geräuschquellen zu richten.
An dieser Stelle sei auf das Stück „4’33“ aus dem Jahr 1952 von John Cage verwiesen. Eine
Komposition, die in ihren 4 Minuten und 33 Sekunden nichts anderes zum Inhalt hat als Stille. So
wurde der Wechsel zwischen den 3 Sätzen lediglich durch das Öffnen und wieder Schließen des
Klavierdeckels angezeigt, ansonsten passierte nichts.
Sie können sich vorstellen, dass – insbesondere bei der Uraufführung – die erwartungsvollen
Zuhörer mit etwas Anderem gerechnet hatten, und im Warten die Umgebungsgeräusche oder
auch die entstehende Unruhe deutlich vernehmbar waren.
Einige der aufgeregten Besucher bekundeten hinterher jedoch absolut überzeugt, dass sie nicht
erinnern könnten, überhaupt etwas gehört zu haben.
Annett Reckert, ehemals an der Kunsthalle Göppingen, hat es einmal folgendermaßen formuliert:
„Das Hören kämpft immer mit dem zeitlichen Fluss, mit dem Flüchtigen, Vergänglichen,
Ereignishaften. Zum Sehen gehört die Prüfung, Kontrolle und Vergewisserung; das Hören
(hingegen) erfordert die akute Aufmerksamkeit für den Moment, das Gewahren des Einmaligen,
den Langmut für die Dauer (gerade der Stille) genauso wie die Offenheit für das Ereignis. ...“
Interessant ist nun, dass Mirja Wellmann zur Herstellung ihrer Schrift- oder Klangbilder das
Holzdruckverfahren anwendet. Dies erfordert eine starke körperliche Arbeit – der Bildhauerei
entsprechend – und erzeugt im Druckstock festgesetzte, reliefartige Formen. Jeder Buchstaben
entspricht somit zwar einer gewissen Vorlage, wurde aber einzeln freigestellt und musste also im
wahrsten Sinne des Wortes „herausgearbeitet“ werden.
Dies äußert sich schließlich auch in der eher haptischen Wirkung der Drucke, fern von den cleanen
und austauschbaren Schriftbildern der Medienkultur.
Bei den – ebenfalls im Holzdruck hergestellten 9 „Lautbildern“ mit dem Titel „Phonetische
Versuchsanordnung mit Handlungsanweisung zur Herstellung derselben“ geht Mirja Wellmann in
ihrem Bemühen um eine Konkretisierung von Lauterfahrungen noch einen Schritt weiter.
So erinnern die Buchstabenaneinanderreihungen im Zusammenhang mit den schematisierten
Darstellungen unmittelbar an erläuternde Schaubilder oder Schautafeln. – Und das sind sie im
Grunde auch!
Versucht man jedoch die vorgeblichen Worte oder Begriffe zu entschlüsseln, dann erscheinen sie
einem zunächst ziemlich unverständlich, wie die fremde Sprache eines Urvolkes.
Im Zusammenhang mit dem Titel der Werkserie, und bei genauerer Betrachtung der Darstellungen
unterhalb, wird jedoch deutlich, dass es sich bei den Buchstabenfolgen um Versuche einer
möglichst genauen Bezeichnung, oder besser gesagt: Laut-bildung handelt, entsprechend
gewisser Geräusche am eigenen Körper, die z.B. beim Kratzen im Armgelenk, beim
Aneinanderreiben der Handflächen oder dem Schlagen auf den Oberschenkel entstehen.
Damit stoßen wir vor, in den Bereich der Onomatopoesie, oder zu deutsch: der Laut- und
Tonmalerei, womit die Nachahmung eines Naturlautes oder eines sonstigen akustischen
Phänomens durch einen als ähnlich empfundenen sprachlichen Ausdruck gemeint ist.
Es handelt sich insofern also tatsächlich um eine Art selbsterfundene „Ursprache“ für noch nicht
benannte Geräusche. In einer weiter verbreiteten Form werden solche Wortbildungen v.a. in der
Kindersprache, oder auch in Comics oder Chat-Foren verwendet.
In den Arbeiten Mirja Wellmanns wird der Betrachter allerdings anhand der Schaubilder
aufgefordert, die Geräusche und die entsprechenden Lautbildungen unmittelbar nachzuvollziehen
und für sich selbst zu überprüfen.
Dadurch löst sich die Wahrnehmung von der reinen Anschauung und überträgt sich bei einem
neugierigen und dadurch aktivierten Menschen auf dessen ganzkörperliches Empfinden.
Zugleich sind die Laute aber dennoch von einem tatsächlichen Wortinhalt losgelöst, und können
nach wie vor ihre ganz eigene, unabhängige Lautpoesie und Klang entfalten
Verwiesen werden soll daher zum Abschluss noch kurz auf ein sehr berühmtes Lautgedicht, die
„Ursonate“ von Kurt Schwitters, die er in den Jahren 1923 bis 1932 in verschiedenen Versionen
erarbeitete, und die ohne jegliches klassisches Wortverständnis, in Aufbau und Struktur einer
klassischen Sonate folgt, wenn auch ironisch gebrochen.
Schwitters galt als Universalkünstler. Er selbst bezeichnete seine Kunst mit dem Begriff „Merz“ –
was soviel heißen soll, wie die Verbindung aller möglichen Themen, Gattungen und Materialien zu
vielgestaltigen, gattungsübergreifenden Kunstwerken, die den Zufall und den Betrachter mit
einbeziehen, ohne sich jedoch in Beliebigkeit zu verlieren.
Heute arbeiten viele Künstler mit den verschiedensten Mitteln und den unterschiedlichsten
Bereichen, die der Wissenschaft, den Medien und den verschiedenen Kunstgattungen entlehnt
sein können. - So auch Mirja Wellmann!
Besonders spannend ist bei Ihr allerdings, dass sich ihre künstlerischen Bemühungen seit einigen
Jahren immer wieder darum drehen, den eigentlich nicht fassbaren, sphärischen Klang in eine
Form zu bringen und diese dem Betrachter zugänglich zu machen. Und dies äußert sich in ihren
Arbeiten zum Einen in einer absoluten Abstraktion, zugleich aber totalen Konkretisierung.
So hoffe ich, dass ich Ihnen mit meinen Ausführungen ein paar weiterführende Gedanken mit auf
den Weg geben konnte und wünsche Ihnen noch viel Vergnügen beim Schauen und beim Hören!
Vielen Dank!