sculptor & sound artist

Otto Pannewitz, Städtische Galerie Sindelfingen, 2010




Ausstellungseröffnung „körper (hoch)2“, Galerie im Oberlichtsaal Sindelfingen, 29.4.2010


Meine sehr verehrten Damen und Herren,
was haben Sie eben gehört? Rhythmische Klatsch- und Klopfgeräusche, unrhythmische
Klatschgeräusche, die Anderen, sich selbst. Das eine waren Geräusche nach einer notierten
Partitur, das andere Ihr Beifall. Sie haben zugleich das Geräuschemachen gesehen, über das
Sehen die räumliche Verortung der Geräuschquelle vorgenommen. Dabei sicherlich sich selbst
als Geräuscherzeuger weniger bis nicht wahrgenommen, weil ihr Hör- und Augenmerk auf dem
Gegenüber lag.
Mirja Wellmann, die Bildhauerei in einem weitgefächerten Spektrum bei den Professoren Pokorny,
Spagnulo und Ullmann an der Stuttgarter Akademie studiert hat, hat sich dem Phänomen
des Hörens verschrieben, hört professionell und plastisch-skulptural zugleich. Das mag zunächst
merkwürdig klingen. Das Hören, das wir im Allgemeinen dem Sehen nachstellen, weil
wir als Augenmenschen zuvorderst auf den visuellen Reiz reagieren, ist Mirja Wellmanns Erkundungsfeld.
Hören wird für den Durchschnittsmenschen vordergründig, wenn es um die akustische
Störung der vermeintlichen Stille, um insgesamt störende oder andererseits um gewollte,
als angenehm empfundene Geräusche geht. Für den Nichtsehenden aber ist Hören Orientierungsmittel
und entscheidender Lebenssinn.
Mirja Wellmann geht in ihrem Werk, das durchaus Hör- und Gesichtsinn verbindet, dem Hören
auf den Grund und fasst die Erkundungsmittel als auch das Gehörte in eine plastischskulpturale
Form, in minimalistische Partituren und Sprachgebilde, die man ganz im Sinne der
Konzeptkunst als Wortskulpturen begreifen kann.
Um es vorwegzunehmen: die Materialsprache ihrer plastischen Hörformulierungen ist dem
Formulierten adäquat: grünlich fluoreszierendes, ephemer wirkendes Plexiglas, spröder Holzdruck
auf Papier, Notate in feinem Grafit.
Der aus grün fluoreszierendem Plexiglas geformte Hörhelm, eine ihrer Hörstationen, mit auf der
Oberfläche eingefrästen Tatoos, jener sichtbaren, codierten Zeichensprache, die im Regelfall
eine menschliche Körperoberfläche zum Bildträger oder den Träger zur ziselierten Plastik werden
lässt, erscheint als archetypische Kopfplastik mit Akzentuierung des Hörorgans, erinnert
zugleich an Helme einstiger, jetziger und künftiger Krieger. Im Gebrauch der Hörstation wandelt
sich die Gewichtung der Hörwahrnehmung des Nutzers durch Dämpfung der Außengeräusche
und ein dadurch verstärktes Sich-Hören von Außen nach Innen. Dem Gesichtsfeld bietet sich
zugleich eine farbliche Filtrierung des sichtbar Realen.

Die Hörstation als Hörkabine, ein Plexiglaskasten mit aufgesetztem Plexiglashörkubus und eingebautem
Hocker evoziert beim Museumsmann zu allererst die plastische Qualität einer
Schutz- oder Transporthülle für eine sitzende Figur mit Plinthe, also einem flachen Postament.
Das fehlende Kunstwerk, die sitzende Figur, tritt erst mit der Benutzung in Erscheinung. Damit
wird jeder Nutzer der Hörstation zur Plastik, im Habitus eines geschützt thronenden Herrscherportraits
von altägyptischer Qualität. Der hörende Insasse ist Ausstellungsstück und Handelnder
zugleich, der im Hören, eingeschlossen in die Kabine, wiederum verstärkt auf sich selbst geworfen
wird, das Eigengeräusch – Atmen, Herzschlag und sonstige Körperregungen – das Außengeräusch
überlagert.
Hinter Mirja Wellmanns Hörstationen steht die Vorstellung, im Hören seinen Lebensraum, momentan
also diesen Ausstellungsraum, und sich selbst konzentriert zu erfahren. Die Künstlerin
hat ihre Hörstationen auch zu mehrteiligen Objekten erweitert, in denen sich Menschen im Hören
gegenüberstehen oder gemeinsame Hörerfahrungen machen, zugleich sich sehend in nonverbale
Kommunikation begeben.
Von dieser Position der Hörerkundung schreitet Mirja Wellmann zur Verbalisierung des Gehörten.
„Gehörter Raum“ ist eine solche Arbeit.
Mirja Wellmann erhört Raum, wenn Sie stundenlang sitzt, hört und das Gehörte notiert, dabei
zugleich die Herkunftsrichtung, wie die Intensität des Gehörten in ihre Notation aufnimmt und so
in einer Art Partitur ihre eigene räumliche Verortung festhält, die sich wiederum aus der Richtung
des Gehörten ableitet. In einem dreizeiligen Notensystem wird die Stärke des Gehörten
dadurch manifestiert, dass die oberste Zeile das lauteste Geräusch und die unterste Zeile das
leiseste Geräusch aufführt. Geräusch heißt es, wenn nicht exakt identifizierbar, sonst lesen wir
Auto, Heizung, Schrankknarren, hinten, neben, oben, unten, jeweils als Kürzel. Durch Hören erfährt
sich Mirja Wellmann selbst im Raum, erfährt den Raum als dreidimensionales Gebilde und
ihre eigene Position als plastisches Element in diesem. Dieserart wird die Raumerfahrung zur
akustischen Raumverinnerlichung, aus der sich zugleich eine Bildvorstellung des Gehörten
entwickelt. Mirja Wellmann nennt ein Beispiel: ein Hund bellt in der städtischen Häuserschlucht
und macht durch sein Bellen, das sich akustisch in den Häusern, auf der Straße bricht, die Art
dieser Schlucht erfahrbar – eng, hoch, weit, gebrochene oder gleichmäßig gestaffelte Bebauung.
Der Raum als skulpturale Komponente im Sinne der konkreten Bildhauerei wird in seiner
Beschaffenheit erhört.
Von dieser Art Notation, die das Geräusch mit bildassoziativen Begriffen belegt, führt der logische
Schritt des plastisch-skulpturalen Hörens zur eigenständig sprachlich-schriftlichen Fassung
des Gehörten, das Mirja Wellmann in unterschiedlicher Weise ins Plexiglas wie aufs Papier
bringt. Die geräuscherzeugende Handlung und das daraus resultierende Gehörte werden

bildlich und lautmalerisch notiert. Hier an die verschiedenen lautmalerischen Wortschöpfungen
der Dadaisten zu denken, was nahe läge, verfehlt aus meiner Sicht Wellmanns Zielrichtung.
Während Kurt Schwitters oder Hugo Ball dem akustischen Nonsens und seiner verstörenden
Wirkung auf das allzu brave Bürgertum frönten, unternimmt Wellmann den Versuch, Gehörtes
zu verbalisieren. Im Idealfall wäre das so entstandene Sprachbild so präzise und damit allgemeingültig,
dass wir daraus die Handlung schließen könnten: KRE beispielsweise, als Kratzen
mit den Fingern über Stoff am Oberarm.
Bildlich setzt Mirja Wellmann ihre Hörergebnisse und deren Handlungsbezug in Wortskulpturen
um, mittels Bohrerritzungen ins fluoreszierende Plexiglas, dessen Zeichnungen dadurch materialbedingt
aufleuchten, zu schwebenden Raumzeichnungen werden; zum zweiten mittels Druck
im Holzschnitt, der tiefgehend und offen erscheint. Und auch hier ist die Materialwahl im Plexiglasbildkasten
wie im Holzdruck der Beschreibung flüchtiger Geräuscherzeugung angemessen.
Denn das Gehörte ist, so es unser Ohr erreicht, schon Vergangenheit (auch bei ca. 340 m/s, die
der Schall im Schnitt von der Quelle zum Empfänger zurücklegt). Mirja Wellmann setzt dieser
Vergänglichkeit die sichtbar gemachte Erinnerung entgegen, die sichtbar gemachte Erinnerung
des zuvorderst hörenden Körpers und seiner Wahrnehmungsorgane.
Dieser Körper, und damit sind wir beim Ausstellungstitel „Körper (hoch) 2“, der die Künstler in
dieser Ausstellung verbindet, ist das eigentliche Medium von Mirja Wellmanns künstlerischer
Arbeit: er ist der Hörende, der Formende und der im Hören sich formende, situierende, agierende,
reagierende, aufnehmende, abgebende, sich mit der Wahrnehmung verändernde und in allen
Hör-Situationen unsichtbar wie sichtbar präsente.
(…)


Aktiv werden dürfen Sie auch bei Mirja Wellmann, indem Sie während der Ausstellung Ihr eigenes
Raum-Hör-Protokoll erstellen. Nutzen Sie Ihre Sinne und die Angebote im Rahmen dieser
Ausstellung.
Otto Pannewitz