Katalogtext
Hörstationen für bewusste Sinneserfahrungen und spielerische Vergnügen
„Zuletzt wurde er ganz still.
Er wurde still, ja, was womöglich ein noch größerer Gegensatz zum Reden ist, er wurde ein Hörer.“
(Sören Kierkegaard, in: Dürckheim, S.75)
Hörprotokolle
Mirja Wellmanns skulpturale Einlassungen in den Ausstellungsraum beginnen im leeren Raum,
dessen Charakter sie zunächst über das Hören zu lokalisieren versucht.
Mehrere Tage hält sich die Künstlerin am selben Ort auf, um von verschiedenen Standpunkten aus
die spezifischen Eigengeräusche des Raumes ( Schlagen der Heizung, Knacksen der Holzbalken),
die den Raum umgebenden Naturgeräusche (Wind, Regen) und die Umweltgeräusche zu
protokollieren. Jeder Positionswechsel im Raum hat wiederum neue Hörerfahrungen zur Folge...
Im Unterschied jedoch zur temporär existierenden, flüchtigen Musik, arbeiten bildende Künstler mit
visuellen Mitteln. Die Materialisierung des Gehörten und damit auch dessen künstlerisch-visuelle
Umsetzung findet bei Mirja Wellmann daher in unterschiedlichen skulpturalen Lösungen statt: In einer
Art Lesesituation werden die abgehefteten Hörprotokolle auf grauen Regalbrettern präsentiert. Dafür
wird das Gehörte in substantivierter Form in Blocksatz transkripiert. Das heißt, nicht die Geräusche
selbst, sondern die Verursacher der Geräusche, Laute und Klänge werden als plastisch vorstellbare
Substantive je nach Dauer ihres Auftretens – als Textskulptur notiert.
Da bei dieser Aufzeichnung jede Art von Syntax ausgeschlossen wird, entfalten die Hörprotokolle
beim Lesen eine eigentümliche, minimalistische Poesie, die zum einen Vorstellungsbilder an bekannte
Gegenstände; zum anderen auch Erinnerungen an Hörerfahrungen freisetzt.
Hörversuchsstationen
Bei den materialbezogenen, skulpturalen Einlassungen in den Raum, wie beispielsweise den
Hörstationen mit Wartebänken, den Hörkreisen und Hörreihen, lädt Mirja Wellmann die
Ausstellungsbesucher ein, ihre Hörerfahrungen selbst zu machen. Das Angebot an akustischen
Versuchsstationen reicht von den aus tiefgezogenem Plexiglas gefertigten Hörkreisen und –reihen,
die von mehreren Personen gleichzeitig genutzt werden können bis hin zu den kabinenartigen
Hörstationen, die zur singulären oder paarweisen Hörerfahrung dienen. Bei den Hörkreisen lässt der
geringe Durchmesser/ Abstand die Nutzer in engen physischen Kontakt treten. Hierbei entsteht eine
ganz spezielle Erfahrung, die der Franzose Michel Serres als >>>kollektive<<< oder soziale
Hörerfahrung beschreibt.
Die singuläre Hörerfahrung wird hingegen in der Einzelkabine nachvollziehbar: Hier dringen die
sozialen Umgebungsgeräusche nur in gefilterter und gedämpfter Form in den Hörhelm ein, so dass
die Körpergeräusche des Hörers wie das Atmen und andere biochemische Aktivitäten bewusst
werden. Eine erweiterte soziale Erfahrungsquelle – die sich mit dem >>>Feld des Anderen<<<
schneidet – bietet die Doppelkabine oder Partnerzelle, die für non-verbale Kommunikation mit
Intimdistanz geschaffen wurde. Man ist ganz Auge und ganz Ohr in diesen helmartigen Behausungen,
wobei auch die übrigen Sinnesorgane aktiv am bewußten Hören beteiligt sind.
Mirja Wellmann zeigt in ihren skulpturalen Einlassungen, dass sich Skulptur und Plastik nicht nur über
ein enormes Materialaufgebot und im rein Visuellem äußern kann, sondern, dass es sich beim
Akustischen ebenfalls um ein materielles Objekt handelt, das seinen eigenen, eben nicht-visuellen
Entfaltungsraum besitzt. Darüberhinaus fordern ihre skulpturalen Hör-Versuchstationen zu
Handlungen auf, die bei den Benutzern bewusste Sinneserfahrungen und spielerische Vergnügen
auslösen.